
Einleitung
Mit dem Ersten EheRG 1977 trat in der Bundesrepublik ein Rechtsinstitut in Kraft, das bis dahin weltweit ohne Vorbild war: der Versorgungsausgleich. Während viele Länder das durch die Ehe bedingte wirtschaftliche Ungleichgewicht ausschließlich über Güterrecht oder nachehelichen Unterhalt zu kompensieren versuchen, verband der deutsche Gesetzgeber das Ziel der nachehelichen Teilhabe beider Partner am gemeinsam Erwirtschafteten mit dem Ideal eigenständiger Alterssicherung. Seither ist kaum ein anderes familienrechtliches Themenfeld von ähnlich intensiver Rechtsprechung, fachwissenschaftlicher Kritik und gesetzgeberischem Reformbedarf geprägt worden.
Der vorliegende Beitrag zeichnet zunächst die ideelle Grundkonzeption und den technischen Ansatz des Versorgungsausgleichs nach (Abschnitt 2), beschreibt anschließend die daraus erwachsenden Legitimations- und Bewertungsprobleme (Abschnitt 3) und erläutert die zentralen Elemente des seit 2009 geltenden Versorgungsausgleichsgesetzes (VersAusglG) einschließlich der jüngsten gesetzgeberischen Anpassungen (Abschnitt 4). Abschließend werden typische Streitpunkte der Praxis – vom Ausschluss wegen Unbilligkeit bis zur Anpassung nach Rechtskraft – systematisiert (Abschnitt 5) und ein Ausblick auf künftige Reformfelder gewagt (Abschnitt 6).
2 Grundlagen
2.1 Ideeller Ausgangspunkt: Teilhabe und eigenständige Alterssicherung
Zwei Leitgedanken durchziehen das System:
- Teilhabe. Ehegatten sollen nicht nur gegenwärtige ›harte‹ Vermögenswerte, sondern auch künftige Versorgungsanrechte, die auf gemeinsamen Lebens- und Erwerbsentscheidungen beruhen, je zur Hälfte erwerben.
- Eigenständige Absicherung. Anstelle dauerhafter Unterhaltsabhängigkeit sollen geschiedene Personen im Alter und bei Invalidität möglichst auf eigene, nicht mehr vom Wohlwollen des Ex-Partners abhängige Leistungen zurückgreifen können.
Beide Ziele stehen in einem Spannungsverhältnis. Eine rein prospektive Sicherung gegen Altersarmut ließe Bedürftigkeit und Leistungsfähigkeit als Korrektive genügen. Das Teilhabemodell hingegen knüpft an ehebedingte Lebens- und Rollenentscheidungen an und betrachtet deren wirtschaftliche Folgen unabhängig vom späteren Bedarf. Das Gesetz löst diesen Dualismus nicht auf, sondern verknüpft »retrospektive« Gerechtigkeit (gleiche Teilhabe) mit »prospektiver« Daseinsvorsorge, ohne für jeden Einzelfall ein austariertes Ergebnis zu garantieren.
2.2 Technischer Grundansatz: Halbteilung des ehezeitlichen Mehrerwerbs
In engem Anschluss an den Zugewinnausgleich werden – vereinfacht gesprochen – ausschließlich solche Anwartschaften erfasst, die während der Ehezeit entstanden sind. Voreheliche und nacheheliche Zuwächse bleiben außen vor. Der Mehrerwerb eines jeden Ehegatten wird hälftig geteilt, idealtypisch durch Realteilung (später § 10 VersAusglG), hilfsweise durch externe Begründung eines neuen Anrechts oder – als letztes Mittel – durch schuldrechtliche Ausgleichszahlungen.
3 Problemfelder der klassischen Regelung
3.1 Verquickung von Teilhabe- und Vorsorgefunktion
Die gleichmäßige Aufteilung aller in der Ehe begründeten Versorgungspositionen genügt dem Teilhabegedanken, differenziert aber nicht danach, ob sich nach der Scheidung überhaupt noch ein Unterhalts- oder Vorsorgebedarf realisiert. Ein ökonomisch starker Ehegatte kann trotz eigener Leistungsfähigkeit auf einen Teil seiner Altersversorgung verzichten müssen, während der wirtschaftlich schwächere Partner auch ohne akute Bedürftigkeit Anrechte hinzugewinnt. Kritiker verweisen darauf, dass der Gesetzgeber auf diese Weise einen permanenten Ausgleichsanspruch schafft, dessen Legitimation allein aus der vergangenen Ehe hergeleitet wird, während das Unterhaltsrecht längst zur Kompensation ehebedingter Nachteile fortentwickelt wurde.
3.2 Heterogenität der Versorgungssysteme
Schon 1977 basierte Altersvorsorge auf einem Nebeneinander gesetzlicher, betrieblicher und privater Systeme; seither haben Mobilität, Globalisierung und Förderinstrumente wie »Riester« oder Entgeltumwandlung die Landschaft weiter ausdifferenziert. Anwartschaften werden
- umlage- oder kapitalgedeckt finanziert,
- als Rente, Kapital oder Mischform ausgerichtet,
- öffentlich-rechtlich, privatrechtlich oder gemischthaltig ausgestaltet,
- nach Beamten-, Angestellten- oder Selbständigenlogik kalkuliert,
- mit oder ohne Hinterbliebenen- und Invaliditätskomponente versehen.
Die klassische Methode der Einmalbewertung sämtlicher Anwartschaften in »korrespondierende Kapitalwerte« und ihre anschließende Saldierung war damit nicht nur fehleranfällig und intransparent, sondern führte bei wertpapiergebundenen oder dynamischen Zusagen regelmäßig zu unbefriedigenden Ergebnissen.
3.3 Verfassungs- und europarechtliche Einwände
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt einzelne Normen – etwa die Benachteiligung von Zugunstenwahrungen Ost/West oder die Versagung von Anpassungen – beanstandet. Auch europarechtlich stellte sich die Frage nach der Gleichbehandlung grenzüberschreitend erworbener Ansprüche. Mehrfach musste der Gesetzgeber nachbessern; das Ergebnis war ein kaum noch überschaubares Normengeflecht aus §§ 1587 ff. BGB a.F., VAHRG, VAÜG, RÜG und Spezialvorschriften.
4 Das Versorgungsausgleichsgesetz 2009 – Strukturreform
Vor diesem Hintergrund setzte der Reformgesetzgeber auf vier Stellschrauben:
- Kodifikation in eigenem Gesetz
Die Materie wurde vollständig aus dem BGB ausgelagert. § 1587 BGB verweist nur noch pauschal auf das VersAusglG. - Primat der Realteilung
Jedes Anrecht wird – soweit unverfallbar und teilungsfähig – intern geteilt; externe Teilung oder schuldrechtlicher Ausgleich bleiben die Ausnahme. - Anschlussfähigkeit für alle Systeme
§ 2 VersAusglG erfasst nun auch auf Kapital gerichtete betriebliche Zusagen und zertifizierte Altersvorsorgeverträge. - Flexibilisierung durch Ehegattenautonomie
Vereinbarungen können – notariell beurkundet oder gerichtlich protokolliert – fast sämtliche Parameter gestalten, unterliegen aber weiterhin einer Inhalts- und Ausübungskontrolle (§§ 6–8 VersAusglG).
4.1 Schematische Darstellung
Stufe | Teilungsart | gesetzlicher Regelfall | Voraussetzungen / Schranken |
---|---|---|---|
1 | Interne Teilung (§ 10) | ja | Anwartschaft unverfallbar, Versorgungsträger teilungsfähig |
2 | Externe Teilung (§ 14) | nein | nur bei kleineren Ausgleichswerten oder mit Zustimmung des Trägers |
3 | Schuldrechtlicher Ausgleich (§§ 20 ff.) | Ultima ratio | nicht ausgleichsreife, abzuschmelzende oder ausländische Rechte |
4.2 Bewertungsmodus
Die unmittelbare Bewertung (§ 39) greift, sofern der Versorgungsträger ehezeitbezogene Werte ausweist (z.B. Entgeltpunkte in der GRV). Ist das nicht möglich, wird zeitratierlich (§ 40) bewertet: Ehezeitanteil = m/n × Renten- bzw. Kapitalanspruch. Nur wenn beide Methoden zu offenkundiger Unbilligkeit führen, darf das Gericht nach § 42 »billig anpassen«.
4.3 Ausschlusstatbestände
- Geringfügigkeit (§ 18) – je nach Fallgruppen unterhalb 30 € Monatsrente oder 3 000 € Kapital.
- Kurze Ehe (§ 3 III) – Ehezeit ≤ 36 Monate, Versorgungsausgleich nur auf gesonderten Antrag.
- Grobe Unbilligkeit (§ 27) – Generalklausel, z.B. langer Getrenntlebenszeit, bewusstes Hinwegsetzen über familiäre Verpflichtungen, extreme wirtschaftliche Disparitäten u.a.m.
4.4 Vereinbarungen der Parteien
Die Reform verstand private Gestaltung ausdrücklich als erwünscht. Ehegatten dürfen
- einzelne Anrechte vom Ausgleich ausnehmen,
- den Ausgleichszeitraum abkürzen (z.B. Trennungszeit ausklammern),
- Kompensation im Zugewinn oder durch Einmalzahlung festlegen,
- die Teilungsform (intern / extern) abweichend regeln.
Grenze bleibt § 8 VersAusglG: grobe Äquivalenzstörungen oder einseitige Lastenverlagerung machen die Vereinbarung nichtig; § 27 schützt in letzter Linie durch richterliche Inhalts- und Ausübungskontrolle.
5 Typische Streit- und Praxisfragen
5.1 Gleichartigkeit und Saldierung
Nach § 18 I VersAusglG können gleichartige – d.h. systemidentische – Anrechte bei demselben Träger saldiert werden. Ob die Dynamik (z.B. Rentenformel oder Kapitalgarantie) übereinstimmt, ist dabei häufig streitentscheidend. Die Rechtsprechung verlangt eine wertidentische Um- oder Fiktivberechnung; Betriebsrenten mit abweichender Zinsstruktur können so schnell aus dem Saldierungsprivileg herausfallen.
5.2 Anpassung wegen Unterhalt, Tod oder Invalidität
Anders als im alten Recht beschränkt das VersAusglG die Rück-Anpassung (§§ 33–38) auf die Regelsicherungssysteme – vor allem GRV und Beamtenversorgung. Betriebsrenten werden nicht zurückgedreht, wenn der Berechtigte stirbt oder der Verpflichtete unterhaltsrechtlich belastet ist. Das BVerfG hält diese Differenzierung mangels struktureller Vergleichbarkeit für zulässig; in der Praxis entsteht jedoch häufig das Empfinden materieller Ungleichbehandlung.
5.3 Ausländische Anrechte
Ehepartner mit Erwerbsbiografien in mehreren Staaten bringen Anwartschaften mit, die nach völlig unterschiedlichen Parametern hochgerechnet werden. Liegt ein ausländisches Rechtssystem außerhalb der EU-Koordinierung, steht regelmäßig nur der schuldrechtliche Ausgleich zur Verfügung (§ 19 II, §§ 20 ff.). Das erfordert nicht selten zwei Verfahren: eine Feststellungsklage in Deutschland und die Realisierung beim ausländischen Träger.
5.4 Kapitalisierungs- und Fondsmodelle
Die Aufnahme kapitalbasierter Zusagen in § 2 I Nr. 3 hat Bewertungsfragen nicht beseitigt. Bei fondsgebundenen Produkten hängt der Ausgleichswert vom Stichtags-Kurs ab; Kursschwankungen zwischen Zustellung des Scheidungsantrags und Rechtskraft lassen sich nur begrenzt auffangen (§ 5 II). Die Gerichte müssen hier mit Pauschalwertermittlungen oder nachträglicher Anpassung arbeiten – ein Einfallstor für Rechtsmittel und Sachverständigenstreit.
5.5 Kosten und Verwaltungsaufwand
Jede reale Teilung verdoppelt die Anzahl der Ansprüche. Kleinstrenten von wenigen Euro pro Monat verursachen Verwaltungskosten, die ihren Nutzen übersteigen. Obwohl § 18 II einen Bagatellausschluss gestattet, erreichen manche Versorgungsträger über § 14 II eine externe Mini-Teilung – dem clean break dient dies kaum, denn der Berechtigte muss dann die »Zweitkasse« monitoren, ohne spürbare Altersabsicherung zu gewinnen.
6 Zusammenfassung
Der Versorgungsausgleich ist das Ergebnis einer deutschen Spezialentwicklung, die das Teilhabemodell mit dem Ideal selbstständiger Alterssicherung verknüpft. Die Strukturreform von 2009 hat das System durch Realteilung einzelner Anrechte, Ausweitung auf kapitalgedeckte Produkte und größere Gestaltungsfreiheit deutlich modernisiert. Unaufgelöst bleiben jedoch Bewertungs- und Kompatibilitätsprobleme vor allem bei betrieblicher, privater und ausländischer Vorsorge. Die künftige Diskussion wird sich weniger um die Grundsatzfrage der Gleichteilhabe drehen, als um Effizienz, Digitalisierbarkeit und europäische Harmonisierung. Bis dahin bleibt das VersAusglG das wohl komplexeste, zugleich aber auch eines der gerechtesten Instrumente des deutschen Scheidungsfolgenrechts – vorausgesetzt, Gerichte, Berater und Ehegatten nutzen den ihnen eröffneten Spielraum mit Augenmaß.
Ihre Ansprechpartner
Rechtsanwältin Pauline Joseph
Telefon: 06131-9725322
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